Am 19. März 1944 besetzte die deutsche Wehrmacht Ungarn. In den kommenden Wochen und Monaten wurden Hunderttausende Juden aus dem Land deportiert und ermordet – eines der letzten Kapitel des Holocaust. In einer gemeinsamen Veranstaltung mit dem ungarischen Kulturinstitut Collegium Hungaricum Berlin (CHB) wollten wir der Frage nachgehen, wie die ungarische Gesellschaft 75 Jahre danach mit diesem historischen Erbe umgeht.
Am Mittwoch, dem 29. Mai 2019, wurde aus diesem Anlass der mehrfach preisgekrönte Film »1945« (Ungarn, 2017, Regie: Ferenc Török) im CHB gezeigt, der 2017 auch bei der Berlinale mit großem Erfolg lief. Die Handlung ist schnell erzählt: Im August 1945 tauchen in einem Dorf irgendwo in Ungarn zwei traditionell gekleidete jüdische Männer auf. Die Dorfgesellschaft gerät in Aufruhr: fast alle haben im Jahr davor persönlich vom »Verschwinden« der Juden profitiert: Sie bekamen Häuser, Geschäfte oder Möbel zugeteilt. Obwohl keiner weiß, was die beiden Besucher wollen, überschlagen sich in den nächsten Stunden die dramatischen Ereignisse.
Im Anschluss an den Film fand ein Gespräch zwischen dem Autor Gábor T. Szántó und dem Historiker Adam Kerpel-Fronius von der Stiftung Denkmal statt. Der 1966 in Budapest geborene Szántó, der dem Film zugrunde liegende Kurzgeschichte und später das Drehbuch für den Film schrieb, sprach davon, dass die Aufarbeitung des Traumas, den der Holocaust in Ungarn verursachte, allen schwer fiel: die nichtjüdische Bevölkerung hat den Krieg als Katastrophe erlebt, wobei sich viele persönlich schuldig gemacht haben. Viele der jüdischen Überlebenden hingegen haben das Thema ebenfalls lange verdrängt, und viele jüdische Intellektuelle, die den Weg der Assimilierung wählten, versuchten lange, das Thema besser überhaupt nicht aufkommen zu lassen.
Zwar gab es bereits in den Jahren 1945-48 viel Erinnerungsliteratur, und auch in den 1960er und 1970er Jahren erschienen literarische Werke, die das Trauma thematisierten, aber breit diskutiert wurden sie bei den Rahmenbedingungen der kommunistischen Diktatur kaum. So konnte beispielsweise 1975 der »Roman eines Schicksallosen« des späteren Nobelpreisträgers Imre Kertész erscheinen, aber er wurde so gut wie totgeschwiegen: insgesamt erschienen damals nur sieben Rezensionen zum Buch.
Heute sei das Thema immer noch schwierig, weil in Ungarn viele Narrative nebeneinander existierten und weil die Frage nach der ungarischen Mitverantwortung für den Holocaust die Gesellschaft insgesamt polarisiere. Dennoch habe sich in den letzten zwei Jahrzehnten sehr viel getan. Auch die Reaktionen auf den Film waren überwiegend sehr positiv mit Hunderten von Artikeln, Interviews und einer für ungarische Verhältnisse sehr hohen Zuschauerzahl. Die Diskussionen über den Holocaust und seine Nachwirkungen seien in der Gesellschaft, aber auch in der Kunst und in der Literatur, noch lange nicht abgeschlossen.