Am 23. Oktober 2014 fand auf Einladung der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und des Berliner Vereins RomaTrial e.V. eine Podiumsdiskussion zu den Identitäten junger Sinti und Roma in der Vertretung der europäischen Kommission in Berlin statt. Anlass war der zweite Jahrestag der Eröffnung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas.
Dr. Ulrich Baumann, stellvertretender Direktor der Stiftung Denkmal, begrüßte die Anwesenden und übergab das Wort an Jana Mechelhoff-Herezi, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung, zuständig für den Arbeitsbereich Erinnerung an Sinti und Roma. Sie informierte über aktuelle Arbeitsvorhaben der Stiftung Denkmal zur Verfolgung der Sinti und Roma und wies darauf hin, dass diese sich angesichts der fragwürdigen Menschenrechtssituation vieler Roma und der sich derzeit spürbar verstärkenden romaphoben Haltungen jedoch nicht allein auf das historische Geschehen beschränken dürften.
Der Literaturwissenschaftler und Autor des mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung gekürten Werkes Europa erfindet die Zigeuner, Prof. Dr. Klaus-Michael Bogdal, gab mit seinem anschließenden Vortrag wichtige Impulse für die nachfolgende Diskussion. Er warnte vor der Überbewertung eines Identitätsbegriffes, der die ethnische Herkunft in den Mittelpunkt stellt. Dies, so Bogdal, sei eine überkommene, mit dem Konzept Europa kaum mehr überein zu bringende Sichtweise.
Die Podiumsdiskussion wurde moderiert von dem deutsch-ungarischen Künstler André Raatzsch. Er befragte die vier Podiumsgäste – die Rechtsanwältin Nizaqete Bislimi, die Diplomatin Eriká Horváth, den Politiker, Musiker und Geschäftsführer der Lagrenne-Stiftung Romeo Franz und den Studenten Deniz Ismaili, geboren zwischen 1966 und 1988 im Kosovo, in Ungarn, Deutschland und Mazedonien – zunächst nach dem Nutzen des Denkmals nach dessen Errichtung und für die Zukunft. Alle Teilnehmer betonten zwar, wie wichtig ihnen die Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma und das Denkmal als sichtbares Zeichen hierfür seien, und hoben dessen hohen Symbolwert hervor. Das Bildungs- und Integrationspotential des Ortes schätzten sie jedoch sehr unterschiedlich ein. Romeo Franz erinnerte daran, wie die Hildgard-Lagrenne-Stiftung für Bildung, Inklusion und Teilhabe in der Folge der Denkmaleröffnung gegründet wurde und betonte, es handle sich bei der Stiftung um die weltweit erste von Angehörigen der Minderheiten selbst gegründete Einrichtung dieser Art. Diesem Leuchtturmprojekt stellten die Podiumsteilnehmer jedoch die in großen Teilen Europas verbreiteten Missstände wie mangelnder Zugang vieler Roma zu Arbeit, Gesundheit, Wohnraum und Bildung gegenüber. Angesichts dieser Realität sei es schwierig, optimistische Zukunftsprognosen abzugeben. Nizaqete Bislimi kritisierte in diesem Kontext die Einstufung dreier Balkanstaaten als sichere Herkunftsstaaten scharf. Sie zeigte auf, welche Konsequenzen sich daraus für die teils seit langem in Deutschland lebenden Roma aus diesen Staaten ergeben.
Nach der Öffnung des Podiumsgesprächs fand die Diskussion dank zahlreicher Wortbeiträge aus dem Publikum eine rege Fortsetzung. So wurde die Frage der sprachlichen Identität und der Erhaltung des Romanes angesprochen, und in diesem Zusammenhang auch der Minderheitenstatus der deutschen Sinti und Roma in der Bundesrepublik, aus dem sie neben Friesen, Sorben und Dänen den Anspruch auf kulturelle Förderung ableiten können. Eine Förderung der eigenen Sprache sei in Deutschland allerdings bisher nicht erfolgt, und eingewanderte Roma würden laut Gesetzeslage diese Rechte ohnehin nicht genießen. Ein Diskussionsteilnehmer, der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammte, gab zu bedenken, ob, etwa über die Deutsche Welle, Sendungen in Romanes produziert und ausgestrahlt werden könnten, wie dies in seiner Heimat vor den Bürgerkriegen praktiziert wurde.
Ein weiteres Thema war die zuletzt durch mehrere Studien belegte, messbar gestiegene romafeindliche Haltung in Deutschland. Die Diskutanten vertraten die Meinung, es sei nicht Aufgabe von Sinti und Roma, hierauf hinzuweisen und Lösungen zu finden. Romaphobie sei ein Problem der Mehrheitsgesellschaft, die sich dem Problem zu stellen habe. So stellte der Vorsitzende des Landesverbandes deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg, Daniel Strauß, die Frage, warum es kein Institut für Antiziganismusforschung gäbe, das institutionell unabhängig und öffentlich finanziert, entsprechende Aufgaben wahrnehme. Im anschließenden Stehempfang diskutierten die zahlreichen Teilnehmer des Abends diese und viele weitere Fragen.