Gumbinnen, Königsberg, Schanghai, Bogotá und New York sind nur einige Stationen des Jerry (Gerd) Lindenstraus, der am 12. Dezember 2013 in der Neuen Synagoge – Centrum Judaicum im Gespräch mit dem Journalisten Wolf von Lojewski berichtete. Die rund 180 Gäste der Veranstaltung erlebten einen besonderen, ja kurzweiligen Abend. Jerry, der 1929 als einziger Sohn jüdischer Eltern im ostpreußischen Gumbinnen geboren wurde, erzählte ohne Verbitterung und voller Ironie über sein Leben.
Die Lindenstraus’, die seit 1883 das zweitgrößte Kaufhaus in der Stadt besaßen, waren 1933 gezwungen, ihren gesamten Besitz für einen Bruchteil des Wertes an die Nationalsozialisten zu verkaufen und nach Danzig zu ziehen. Nach der Scheidung seiner Eltern lebte Jerry bei seinem Vater in Königsberg und erlebte dort die sogenannte Kristallnacht. Seine Mutter floh 1938 nach Kolumbien, wo sie sich bald eine neue Existenz aufbauen konnte. Dem Vater gelang es erst ein Jahr später, die letzten Schiffskarten für die Überfahrt von Bremerhaven nach Schanghai zu bekommen und damit das Leben von mehreren Familienmitgliedern zu retten. Kurz nach der Ankunft in der chinesischen Stadt, die zwischen 1938 und 1941 für über 20.000 deutsche und österreichische Juden zur letzten Zufluchtsstätte wurde, verstarb sein Vater an Tuberkulose. Im Gespräch mit Wolf von Lojewski schilderte Jerry lebhaft die widrigen Lebensbedingungen im Schanghaier Ghetto im Stadtbezirk Hongkou. Hier, meint er, hätte er die innere Kraft gewonnen, die ihn sein weiteres Leben meistern ließ. 1947 brach Jerry zu seiner Mutter nach Kolumbien auf, die er seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen hatte. Nach deren Tod reiste er 1951 durch die USA und wurde schließlich in New York sesshaft, wo er eine erfolgreiche Export-Firma gründete. Oftmals ist Jerry an die Stationen seiner Reise zurückgekehrt, doch erst 1992 konnte er zusammen mit seinem Sohn seine seit 1945 russische Heimatstadt besuchen.
Aufgrund seines deutschen Akzentes wird er in den USA immer wieder nach seiner Herkunft gefragt. »Wenn ich sage, dass ich in Danzig gelebt habe, nicken die meisten; dass ich aus der Gegend von Königsberg komme, sagt dann nur noch wenigen etwas. Und wenn ich den Namen meiner Geburtsstadt nenne, schütteln sie nur mit dem Kopf: ›Nie gehört!‹« Auch deswegen ist es ihm bis heute ein Anliegen, durch seine Lebensgeschichte etwas über das Schicksal der jüdischen Bewohner Ostpreußens zu erzählen.
Zum Auftakt der Veranstaltung stellte Dr. Hermann Simon, Direktor Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum, den Tagungsband »Das war mal unsere Heimat …« der Stiftungen Denkmal für die ermordeten Juden Europas sowie Flucht, Vertreibung, Versöhnung vor, der Aspekte der vielfältigen jüdischen Geschichte im früheren preußischen Osten dokumentiert. Karin Banse, stellvertretende Vorsitzende der Kreisgemeinschaft Gumbinnen, richtete sich mit einem sehr persönlichen Grußwort an das Publikum und wies auf deren Bemühungen hin, an die früheren jüdischen Einwohner der Stadt zu erinnern und einen lebendigen Austausch zwischen den Generationen und den Nationen zu fördern.
Das Zeitzeugengespräch fand im Rahmen der Ausstellung »Es brennt! 75 Jahre nach den Novemberpogromen 1938« statt, die noch bis zum 2. März 2014 im Dokumentationszentrum Topographie des Terrors gezeigt wird. Die Ausstellung dokumentiert unter anderem auch die Zerstörung der Synagoge in Königsberg im November 1938.
Das Grußwort von Karin Banse, stellv. Vorsitzende der Kreisgemeinschaft Gumbinnen, können Sie