Bewegung entsteht auf der Leinwand, als nach und nach Vornamen und Geburtsdaten in bunter Schrift eingeblendet erscheinen: Angela, Elisabeth, Erwin, Friedrich, Karl, Rita, Selma, Shlomo und Vitka. Die Leinwand fährt hoch, die darunter liegenden Jugendlichen stehen langsam auf und stellen Lebensfreude, Träume, Hobbies, Wünsche, Charaktereigenschaften dar. Neun Schauspieler und Schauspielerinnen sind auf der Bühne, jeder hat eine eigene Szene, und doch passiert alles gleichzeitig; dazwischen eine kleine Tanzeinlage, die die neun Figuren miteinander verbindet. Schließlich – gewissermaßen als Symbol des allen gemeinsamen Aufbrechenwollens ins Leben – nehmen alle einen Koffer von einem Stapel und gehen damit auf der Bühne umher. Herkunftsorte stehen auf den Koffern. Ein Sinnbild von »Vielfalt«, eine Art Gemälde oder Panorama entsteht. Am Ende der Szene drehen alle nacheinander ihren Koffer um. Sichtbar wird plötzlich, was diese von Jugendlichen gespielten Figuren noch ausmacht, denn auf ihrem Koffer steht nun die jeweilige Stigmatisierung durch die NS-Ideologie (»Zigeuner«, »Schwachsinnig« usw. ), mit denen sie plötzlich als »anders« kategorisiert wurden.
Unter der Leitung der Deutschlehrerin Susanne Westhoff, die vor vier Jahren an der Schule die Theater-AG übernahm, führte der Literaturkurs der 11. Jahrgangsstufe des St. Pius Gymnasiums in Coesfeld am 27. Juni erstmals das über ein gesamtes Schuljahr hinweg selbst entwickelte Theaterstück auf, das auf neun Biografien unserer Jugendwebseite »du bist anders?« basiert. Dabei ließen sich die Schülerinnen und Schüler von den Einsstiegssätzen leiten, die bereits auf der Startseite unserer Online-Ausstellung auf eine aus der Gegenwart kommenden Szenerie assoziativ einstimmen: Die Sätze, mit denen Episoden aus dem Leben der Portraitierten auf den Punkt gebracht werden und die so oder ähnlich auch auf heutige Jugendliche zutreffen könnten, wurden den Schülern zum Leitmotiv. Sie schrieben charakteristische Szenen für die ausgewählten jungen Leute und füllten sie mit Leben.
»Kreativ sein und Geschichte lebendig werden lassen steckt an«, meint Frau Westhoff, die Leiterin des Theaterkurses. »Schülerinnen und Schüler aus dem Kunstkurs haben das Bühnenbild und die Requisiten gebaut, der Musikkurs hat sich mit Klezmermusik beschäftigt und die Live-Musik beigesteuert«. Nach und nach wird jede Figur mit Leben gefüllt, man merkt den Schülern ihre »Patenschaft« für die Figuren an. Sehr einfühlsam, aber nicht rührselig oder weinerlich, gehen sie ans Werk. Mit kräftigen Stimmen werden historische Dokumente vorgelesen.
Insgesamt liegt der Schwerpunkt – genau wie bei der Ausstellung – darauf, die damaligen Jungen und Mädchen als lebendige Akteure, die ihren eigenen Witz und Ernst haben, zu zeigen. Im Gespräch mit den jungen Schauspielern nach der Aufführung betonen sie selbst, wie wichtig es ihnen war, es »nicht zu traurig« werden zu lassen und den lebensbejahenden Aspekt der dargestellten Personen zu unterstreichen. Dennoch, einige Szenen wirken drastisch eindrucksvoll, ja brutal, die Jugendlichen haben es sich nicht leicht gemacht und nichts beschönigt. Trotz der transportierten Lebendigkeit wird immer wieder auch das Brutale von Ausgrenzung und Mord deutlich gemacht.
Hervorzuheben sind, neben der beeindruckenden Leistung der insgesamt über 30 Schülerinnen und Schüler, die großartigen Ideen im Detail, sei es in dramaturgischer, sei es in künstlerischer oder musikalischer Hinsicht. Auf viele Requisiten wurde verzichtet, es waren die vielen kleinen Gesten und angedeuteten Szenerien, die die Phantasie des Publikums viel besser beflügeln konnten. Die Anschlüsse zwischen den Szenen waren sehr schlüssig und dramaturgisch dicht. Mit wenigen Hilfsmitteln wurde in kurzer Zeit eine Atmosphäre geschaffen, so dass man wirklich sehr schnell in die wechselnden Szenen eintauchen konnte.
Am Ende verließen junge wie ältere Besucherinnen und Besucher die als Theater dienende Schulaula angefüllt mit Eindrücken zum Thema »anders sein – anders gemacht werden«, aber auch mit Respekt und Stolz auf diese ihre Coesfelder Theatertruppe.
Es berichteten: Dr. Constanze Jaiser, Nadja Grintzewitsch, Kathrin Zöller