15 Jahre sind im Leben eines Hundertjährigen eine geringe Zeitspanne, im Leben eines 55-Jährigen, in meinem, wirken sie zumindest länger; so lange kannten wir uns, Walter und ich. Wobei die letzten zwei Jahre fast die innigsten waren, weil wir mehr Zeit miteinander verbrachten als zuvor. Doch die längste Zeit in Walters Leben waren die 25 Monate ab März 1943 bis zur Befreiung am 25. April 1945: »25 Monate illegal, jede Sekunde in Lebensgefahr, so etwas möchte ich nicht noch mal erleben«. Walter Frankensteins Leben umfasst ein Jahrhundert – von seiner Geburt im westpreußischen Flatow am 30. Juni 1924 über Berlin und Israel bis zu seinem Tod am 21. April 2025 in Stockholm.
Walter flieht im Sommer 1936 aus Flatow vor antijüdischer Ausgrenzung nach Berlin. Er kommt im Baruch Auerbach’schen Waisenhaus, der »Insel im braunen Meer«, an der Schönhauser Allee 162 unter und findet hier eine neue Heimstatt. Dieser Sommer 1936 ist für Walter auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil er während der Olympischen Spiele Jesse Owens im Stadion sieht und – noch viel mehr – weil er erstmals ein Spiel von Hertha BSC besucht. Er bleibt den Blau-Weißen bis zum Schluss treu. Das Leben im jüdischen Waisenhaus ist von Strenge und dem Anspruch auf Entfaltung der Zöglinge geprägt. Auf Fotos – etwa beim Fußball – überragt Walter seine Kameraden. 1941 trifft er hier Leonie Roesner, die Liebe seines Lebens. Oft wiederholt er später seinen ersten Eindruck: »Diese – und sonst keine!« Im Januar 1942 stoßen auch Hans Rosenthal (1925 – 1987) [https://www.stiftung-denkmal.de/aktuelles/werkstattbericht/ziemlich-beste-freunde-hans-rosenthal-und-walter-frankenstein/] und sein achteinhalbjähriger Bruder Gert im Auerbach dazu. Walter und »Hänschen« werden enge Kumpels fürs Leben. Ende 1942 verschleppen die Nationalsozialisten fast 140 Mädchen und Jungen – auch Gert – sowie einige der Erzieher aus dem Auerbach nach Riga und Auschwitz; niemand überlebt. »Nicht mit uns!« lautet Walters Parole. Walter, seine Frau Leonie und ihr kleiner Sohn (ein zweiter folgt in der »Illegalität«) wie auch Hans Rosenthal tauchen im März 1943 unter und erleben dank mutiger Nichtjuden ihre Befreiung durch die Rote Armee Ende April 1945. »Hans wollte bleiben und ich nur weg«, meint Walter am 2. April 2025, als wir anlässlich des 100. Geburtstages des legendären Entertainers erstmals über ihre besondere Freundschaft sprachen. Leonie und die Kinder wandern 1946 nach Palästina aus (»Wir wollten von den Deutschen nichts mehr wissen!«), während Walter für die »Bricha« arbeitet, dann von den Briten auf Zypern festgehalten wird und erst 1947 zu ihnen gelangt. Er kämpft im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 und berichtete gern über eine Episode, als ein orthodoxer Jude sich am Sabbath weigert, Säcke für eine Straßensperre zu schleppen: »Du machst das jetzt – oder ich erschieße dich!« Er kam Walters Befehl nach. Nach nur zehn Jahren geht es weiter gen Schweden, wo ein Auerbacher ihnen eine Wohnung zur Verfügung stellt und Walter nach einer Ausbildung als Ingenieur tätig ist. Erst 1972 reisen Walter und Leonie erneut nach Deutschland. In Westberlin wohnen sie im Hotel »Savoy« (für Walter sein Berliner Refugium auf den vielen Reisen, die folgen sollten, bis zu dessen Schließung 2021). Und hier treffen sich nach 27 Jahren Trennung auch die beiden guten alten Kumpels Walter und »Hänschen« aus dem Auerbach wieder – und immer wieder. Denn die Frankensteins kommen oft, nach Leonies Tod 2009 Walter dann allein noch öfter nach Berlin, schließlich hat er eine Mission: ein würdiges Gedenkzeichen für das Auerbach‘sche Waisenhaus. Und so beginnt unsere gemeinsame Zeit.
Meine Tochter Selma ist zu diesem Zeitpunkt vier, mein Sohn Emil – leidenschaftlicher Herthaner – zwölf Jahre alt; Walter wird ein Freund der Familie, der bei jedem Berlinbesuch zu Gast ist und Wert auf Königsberger Klopse legt. Die Einrichtung des Erinnerungsorts für das Waisenheim dauert seine Zeit – Überzeugungsarbeit, Bürokratie, künstlerischer Wettbewerb und Umsetzung. Doch im Sommer 2014 kann Walter ihn zusammen mit Senat und Stiftung einweihen; rechtzeitig zu seinem 90. Geburtstag, den er – mit dem singenden Überraschungsgast Dagmar Manzel – im »Savoy« feierte. Aber er wäre nicht Walter Frankenstein, wenn er es damit hätte bewenden lassen: Es ist sein Wunsch, auch an das Reichenheim’sche Waisenhaus am Weinbergsweg und an die Jüdische Bauschule in der Fruchtstraße (seit 1971: Straße der Pariser Kommune) zu erinnern. Walter war dort Lehrling und wurde unter anderem zur Zwangsarbeit für das SS-Reichssicherheitshauptamt eingesetzt: »Ein Fleck und du bist morgen in Auschwitz«, drohte Adolf Eichmann, als Walter in dessen Arbeitszimmer eine Telefonleitung verputzte. Die Informationstafeln können wir 2015 und 2017 der Öffentlichkeit übergeben. Im Jahr darauf nehmen wir Kontakt zu Hertha auf, die ihren ältesten Fan mit offenen Armen empfängt, und sind fast bei jedem seiner Besuche im Olympiastadion, wo die alte Dame allerdings stets verliert. Walter spricht mit Fans und wird Ehrenmitglied mit der Nummer 1924, seinem Geburtsjahr. Über die Siege seines Vereins am 5. und 20. April 2025 konnte er sich noch freuen.
2023, 2024 und 2025 waren meine Tochter und ich mehrmals bei ihm in Stockholm – auch zu seinem 100. Geburtstag am 30. Juni 2024. Bei der Feier hielt er über zwei Stunden meine Hand. Er war vertraut, nannte mich einen seiner engsten Freunde. Er war schwach, fast erblindet, aber dennoch wach, wenn er die Geschichten von damals erzählte und über die heutige Weltlage wetterte. Er bedauerte immer wieder, nicht mehr reisen zu können: »Meine Stadt ist Berlin, mit allem was man da erlebt hat«. Die Hauptstadt blieb seine Heimat und das Deutsche seine Muttersprache. Der Abschied von Walter bei unserem letzten Besuch im April 2025 fiel Selma und mir nicht leicht. Natürlich hatten wir ihn darin bestärkt, dass wir uns zu seinem 101. Geburtstag wiedersehen würden. Ich mochte Abschiede noch nie, vermeide ihre Rituale, aber Abschiede für immer hasse ich. Nun ist der letzte Auerbacher, mein langjähriger Freund Walter, verstorben – am Abend des 21. April, wenige Stunden nach dem Papst und nur vier Tage vor dem 80. Jahrestag seiner Befreiung 1945. Die – erwartbar-unerwartete – Nachricht seines Todes hat mich dann doch zutiefst getroffen. Walter war ein Jahrhundertzeuge und ein großartiger Mensch! Danke, mein Walterchen!
Uwe Neumärker
Bildunterschrift 1. Foto: Flatow, um 1930: Walters Einschulung © Walter Frankenstein