Am Mittwoch, den 4. November 2020 hätten wir in der Apostel-Paulus-Kirche in Berlin-Schöneberg die Warschauer Autorin Anna Bikont willkommen geheißen. Wir hätten ihr Buch »Wir aus Jedwabne« vorgestellt, das seit diesem Jahr dank des Jüdischen Verlags im Suhrkamp Verlag endlich auch in deutscher Übersetzung (Sven Sellmer) verfügbar ist.
Die erste polnische Ausgabe des Buches ist 2004 erschienen, zu einer Zeit, als sich die Öffentlichkeit in Polen sehr intensiv und kritisch mit der Vergangenheit des Landes auseinandersetzte. Die Ereignisse vom 10. Juli 1941, als polnische Einwohner der Kleinstadt Jedwabne ihre jüdischen Nachbarn ermordeten, bildeten einen heiß umstrittenen neuralgischen Punkt. Die genaue Rolle der deutschen Besatzer beim Pogrom ist dabei bis heute umstritten. Den erinnerungspolitischen Sturm hatte 2000 der Historiker Jan T. Gross mit seinem Buch »Nachbarn« losgetreten, aber zum wahren Meisterwerk wurde die 500-Seiten starke Reportage der Publizistin Anna Bikont. Sie versuchte alle noch lebenden Zeitzeugen – Angehörige der Opfer genauso wie ehemalige polnische Nachbarn – zu Wort kommen zu lassen. Zeitweilig lebte sie in und mit Jedwabne.
Das Ergebnis ist ein Buch, das unter die Haut geht. Sie bleibt ihren Gesprächspartnern gegenüber immer einfühlsam, aber dem Leser wird der Horror des 10. Juli 1941 immer drastischer vor Augen geführt. Gleichzeitig ist das Buch ein verstörendes Portrait einer Kleinstadt, in der nur wenige bereit sind, sich mit dem schwierigen Erbe ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Auch gewährt Bikont tiefe Einblicke in die Debatten in ihrem Warschauer Freundeskreis oder den Redaktionsräumen der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, für die sie seit Jahrzehnten arbeitet. So erfährt auch der deutsche Leser ungemein viel über die Kontraste zwischen Metropole und Provinz im Nachbarland Polen.
Seit 2004 hat sich indes vieles verändert, nicht alles zum Guten. Darauf geht die Autorin in ihrem Nachwort zur deutschen Ausgabe sehr deutlich ein: »In Jedwabne selbst jedoch kann man sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass das Gedächtnis ein Schlachtfeld ist. Und davon, wer diese Schlacht gewonnen hat.« Das Denkmal, das seit 2001 an die Opfer des Pogroms erinnert, ist immer noch schwer zu finden. Die Augenzeugen, mit denen sie Anfang der 2000er Jahre gesprochen hat, sind alle tot. Die wenigen, die sich in Jedwabne gegen das Vergessen stemmten, sind weggezogen. Rückenwind erhalten diejenigen, die die unangenehmen Erinnerungen lieber verdrängen wollen, vom Rechtsruck der polnischen Politik auf nationaler Ebene. Eine Entwicklung, die leider nicht nur in Polen zu beobachten ist.
Die Stiftung hofft, die Lesung und das Gespräch mit der Autorin bald nachholen können.
von Adam Kerpel-Fronius, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Denkmal