»Königsberg ist meine Heimat und wird es auch immer bleiben – auch wenn die Stadt jetzt ›Kaliningrad‹ heißt und heute zu Russland gehört«, so beginnt Nechama Drober ihre Autobiographie. Sie, die am 17. August 1927 als Hella Markowsky am Pregel zur Welt gekommen war. Nun, am 9. August, eine Woche vor ihrem 96. Geburtstag, ist die letzte jüdische Zeitzeugin der Hauptstadt Ostpreußens verstorben. Königsberg war und blieb der Kosmos ihrer Seele, ihrer Gedanken und Erinnerungen. Nechama Drober kann als das Gedächtnis dieser ausgelöschten Welt gelten.
Hella Markowsky erlebt die Ausgrenzung nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933. Sie ist Augenzeugin des Novemberterrors 1938 und sieht die Neue Synagoge in Flammen, in der sich zu dieser Zeit ihre Schule befindet. 1939 erhält sie den Zwangsnamen »Sara«, muss ab 1941 den gelben Stern tragen. Nach der Schließung der jüdischen Schule im Frühjahr 1942 wird sie zur Zwangsarbeit verpflichtet – zehn Stunden am Tag. Am 24. Juni 1942 beobachtet sie die erste Verschleppung von Königsberger Juden, darunter Verwandte und Freunde, Klassenkameraden und Lehrer. Erst in den 2000er Jahren erfährt Frau Drober, dass der Transport nach Minsk in den Tod abgegangen war. Im Sommer 1944 überlebt sie die anglo-amerikanischen Bombenabwürfe, die das Zentrum ihrer Heimatstadt in Schutt und Asche legen. Sie flieht vor der eigenen Deportation Ende Januar 1945 aus Königsberg – in der Hoffnung, dass die heranrückende Rote Armee ihr Retter wäre. Doch nur knapp entgeht die Familie ihrer Erschießung, der Vater wird nach Sibirien abtransportiert. Nach der Eroberung Ostpreußens durch die Sowjets trifft der rote Terror die gesamte verbliebene Bevölkerung, auch die Überlebenden des Nazi-Regimes. Zudem kommt es zu zehntausendfachem Seuchen- und Hungersterben, dem ihr Bruder Denny, ihre Mutter und Großeltern zum Opfer fallen. Hella und ihre Schwester Rita verlassen die Geisterstadt Königsberg im April 1946 und schlagen sich in das litauische Kaunas durch. Fortan heißt Hella »Nechama«, lernt ihren Ehemann kennen und zieht mit ihm in dessen sowjetische Heimatstadt, das moldauische Kischinew. Rita folgt. Ihr Deutsch- und ihr Judentum müssen die Geschwister aus Angst verschweigen. 1951 und 1954 kommen Nechama Drobers Söhne zur Welt, die 1989 und 2018 sterben. Im Sommer 1990 bemüht sich Nechama Drober, ihre deutsche Staatsbürgerschaft zurückzuerhalten. Aber ihr Vaterland verweigert ihr das »Recht auf Heimat«. Stattdessen reist sie nach Israel aus, wo sie als Russin gilt und nie heimisch wird.
Ich lernte Nechama Drober am 14. März 2008 in Stuttgart kennen, bei einem Besuch ihres Klassenkameraden Michael Wieck (1928–2021). Gemeinsam brachten wir 2012 ihre Erinnerungen heraus, gestalteten mehrere Gesprächsabende in Berlin, besuchten Königsberg, Kischinew und Minsk. Es gibt so viele unvergessliche Momente mit Frau Drober, aber besonders eingeprägt hat sich mir die Einweihung eines Gedenksteins am Rande des früheren Minsker Ghettos am 24. Juni 2015, als Frau Drober in ihrem ostpreußischen Dialekt bekundete: »Es ist ein ganz besonderer Tag für mich und eine Ehre. Und ich spreche heute auch für die Juden aus Königsberg und aus Ostpreußen, die in Minsk und anderswo von den Nazis ermordet wurden, und ich spreche auch für alle Nichtjuden aus meiner Heimat, die den Krieg und die anschließende Hungersnot nicht überlebt haben.« Agnes Miegel (1879–1964), die bekannte ostpreußische Heimatdichterin, schrieb im Sommer 1944 das Gedicht »Abschied«. Es endet mit dem Satz: »… und dass Du, Königsberg, nicht sterblich bist!« Diese Worte, so Nechama Drober, »gehören zu meinem Leben«. Nun gilt es, Abschied von ihr zu nehmen – und zugleich die Erinnerung an eine einzigartige Frau, ein außergewöhnliches Schicksal und ihre verlorene Heimat Königsberg zu bewahren.
von Uwe Neumärker
Titelbild: Minsk (Belarus), 24. Juni 2015: Nechama Drober im Wald von Blagowschtschina, wo die deportierten ostpreußischen Juden, darunter Verwandte und Schulkameraden, gleich nach ihrer Ankunft am 26. Juni 1942 erschossen wurden. © IBB Minsk
Zum Tod von Nechama Drober — »Ein Jahrhundertschicksal«
Jana Demnitz, Video- und Onlineredakteurin beim Tagesspiegel, begleitet Uwe Neumärker Mitte September nach Israel an das Grab von Nechama Drober.