Am 22. Oktober 2023 wurde im Zentrum Stadtgeschichte Ingolstadt eine herausragende Ausstellung zu Schicksalen dortiger Sinti und Roma im 20. Jahrhundert eröffnet. Am Tag zuvor hatte die Hauptkuratorin Agnes Krumwiede bereits eine Führung für Angehörige organisiert, deren Reaktionen sehr berührend waren und ein Vorgefühl für die Veranstaltung am Sonntag um 11 Uhr im Barocksaal boten. Deren Auftakt bildeten sehr offene, sehr berührende Wortbeiträge von Kindern und Enkeln Überlebender: Hugo Höllenreiner (Enkel des gleichnamigen Zeitzeugen), Gino Lauenburger (Enkel von Max Lauenburger), die »Tochter von Ursula Heilig« sowie Egon Siebert (Angehöriger von Selma Rose und langjähriger Vorsitzender des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma in Bayern). Sie alle wiesen auf die fortwährenden Traumata in ihren Familien hin, zugleich sprachen deutlich über die fast täglichen Erfahrungen von Ausgrenzung in der Gegenwart. Dann sprach Petra Kleine, Bürgermeisterin Ingolstadts.
Ein sichtlich bewegter Roberto Paskowski, Vorsitzender des Ingolstädter Sinti-Kultur- und Bildungsvereins, bedauerte eingangs, dass diese Ausstellung sehr, fast zu spät komme: »In Ingolstadt haben viele unserer Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gelebt, die mittlerweile verstorben sind. Ihre Lebensgeschichte und ihr Verfolgungsschicksal konnten nicht mehr dokumentiert werden. Denn es hat sie nie jemand aus der Mehrheitsgesellschaft dazu befragt. Holocaustüberlebende der Sinti wurden – auch in Ingolstadt – anders behandelt. Sie wurden in der Vergangenheit nicht zu städtischen Gedenkveranstaltungen eingeladen. Noch nie wurde in Ingolstadt eine Straße nach einem Sinto oder einer Sinteza benannt. Und das, obwohl viele von uns seit Jahrzehnten in Ingolstadt leben.« In klaren Worten kritisierte er: »Das Mahnmal im Luitpoldpark setzt die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung und des Völkermordes gleich mit den im Zweiten Weltkrieg getöteten Soldaten der Deutschen Wehrmacht. Wir wollen nicht an Denkmälern der Täter um unsere Menschen trauern. Wir wünschen uns ein eigenes Mahnmal für Sinti und Roma in Ingolstadt an einem Ort, den wir nicht mit den Tätern teilen müssen.« Schließlich mahnte er eine eigene Begegnungsstätte für die 200 Angehörigen der Minderheit an.
Agnes Krumwiede führte in die von Marc Köschinger auf einprägsame Weise gestaltete Ausstellung ein: »Unser Leitfaden vor, während und danach bezieht sich auch auf die Auswahl der Biografien. Sie werden die Geschichte einer Familie von Gauklern und Komödianten und einer Deutschen Sinti-Familie kennenlernen, die sich vor dem Nationalsozialismus in Ingolstadt aufgehalten haben. Und von deutschen Sinti, die während oder nach dem Nationalsozialismus in Ingolstadt gelebt haben. Vor, während und danach – betrifft auch die Gliederung der einzelnen Biografien. Wir erzählen nicht nur das Verfolgungsschicksal, sondern auch, wie es für die Überlebenden nach 1945 weiterging. Wie sie um ihr Recht auf Entschädigung und auf Anerkennung des Völkermordes kämpfen mussten. Zur Geschichte der Sinti und Roma gehört nicht nur die kontinuierliche Verfolgung und Ausgrenzung, sondern auch ihr mutiger Widerstand gegen den Faschismus in ganz Europa, ihr Ringen um Selbstbestimmung, gegen die teils bis heute andauernde Diskriminierung und Erfassung.« Wie die Angehörigen betonte sie, dass Sinti Deutsche wie alle anderen auch waren und sind: »Das verbindende Element ist der Bezug zu Ingolstadt. Bei jeder Biografie kann man sich denken: Das hätten die Nachbarn meiner Großeltern in Ingolstadt sein können, oder: Das könnten meine Nachbarn sein. Das waren oder sind ja auch Ingolstädter Bürgerinnen und Bürger.«
Die Festrede hielt Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal, der zusammen mit seiner Kollegin Jana Mechelhoff-Herezi, Leitung »Erinnerung an Sinti und Roma, angereist war. Er erinnerte zunächst an die mit nur 1.50 Meter »überragende Jahrhundertzeugin« Zilli Schmidt (1924 geboren als Cäcilie Reichmann), die genau vor einem Jahr im Alter von 98 Jahren verstorben war, an die letzten gemeinsamen Stunden mit ihr im Krankenhaus und an ihren Zeitzeugenbericht »Gott hat mit mir etwas vorgehabt!«. Neumärker fügte hinzu: »Es ist viel Wahres an der Erkenntnis: Mit dem Tod einer Freundin verliert der Mensch eine Welt und wird um ein Leben ärmer.« Zilli und ihre Familie lebten zwischen 1936 und 1939 in Ingolstadt. Sie schloss hier die Volksschule ab und wurde im nahen Eichstätt gefirmt. Anschließend erläuterte er kurz die Aufgaben der Stiftung, zu denen auch die Betreuung des 2012 eingeweihten Gedenkensembles für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas gehört, und verwies auf die 2022 eröffnete Ergänzungsausstellung, die – als eine von neun – auch Zilli Schmidts Biographie zeigt. Denn: »Ohne historisches Wissen über die Menschen, die Opfer und die Überlebenden, ist keine Empathie möglich.« Schließlich verwies er darauf, dass »noch heute Antiziganismus in Gesellschaft und staatlichen Institutionen Deutschlands und Europas weit verbreitet« ist, dass »Roma und Sinti Stigmatisierung und Benachteiligung« erfahren – sei es als auf den Balkan und in die Republik Moldau Abgeschobene oder als Diskriminierung unter den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, dass sie »Opfer tätlicher Gewalt bis hin zu rassistischem Mord« auch durch die Polizei werden – Juni 2021: Tod des tschechischen Rom Stanislav Tomaš, oder Dezember 2022: ein 16-jähriger Angehöriger der griechischen Roma-Minderheit in Saloniki. Als letzte Sätze seiner Rede zitierte er Zilli Schmidt: »Unsere Menschen sollen nicht vergessen werden! Ich will, dass die Welt erfährt, was mit den Sinti passiert ist. Ich will, dass sie wissen, wie das ist, weiterzumachen, wenn man alles verloren hat, was einem lieb war.«
Den musikalischen Rahmen bildete der hochbegabte Geiger June Heilig, begleitet von Sergej Hartmann am Klavier.
Die Ausstellung ist bis zum 17. März 2024 zu sehen: https://zentrumstadtgeschichte.ingolstadt.de/Stadtmuseum/.