Das Ende des Zweiten Weltkrieges jährt sich in diesem Jahr zum 75. Mal. Seit 2005 erinnert die Bundesrepublik Deutschland mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas an die sechs Millionen jüdischen Opfer des Holocaust. Die Stiftung, die das Denkmal betreut, nahm vor 20 Jahren – am 1. April 2000 – ihre Arbeit auf. (Näheres unter: stiftung-denkmal.de/stiftung/gruendung.)
Uwe Neumärker, seit 2009 Direktor der Stiftung Denkmal zu 75 Jahre Kriegsende: »Für die Überlebenden stellte der 8. Mai 1945 den Tag der Befreiung dar, sie glaubten, ihr Leiden habe nun ein Ende. Es war ein Tag der Hoffnung, heimzukehren und Angehörige wiedertreffen zu können. Diese Hoffnung wurde Großteils schmerzlich enttäuscht. Oft konnten sie nicht in ihre Heimat zurückkehren oder verließen sie und wanderten aus, um sich weit weg von Europa ein neues Leben aufzubauen. Ein Leben, das vom Schweigen über das eigene Schicksal geprägt war. Zudem mussten sie Jahrzehnte um ihre Anerkennung als Opfer und eine sogenannte Wiedergutmachung kämpfen.«
Neumärker zu 15 Jahre Holocaust-Denkmal: »Das Holocaust-Mahnmal wurde vor 15 Jahren, also 60 Jahre nach Kriegsende, eingeweiht. Deutschland hat lange, viel zu lange gebraucht, sich zu seiner Verantwortung für die begangenen Verbrechen zu bekennen. Drei weitere Denkmäler folgten. Diese notwendigen symbolischen Orte des Gedenkens müssen vor allem in Gegenwart und Zukunft Zeichen gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Homophobie, gegen jedwede Form von Rassismus und Ausgrenzung von Minderheiten in Deutschland und Europa sein. Das sind wir nicht nur den Millionen Ermordeter schuldig; es ist die Aufgabe, die uns mit Blick auf die Vergangenheit tägliche Verpflichtung ist und sein muss.«
Aktivitäten der Stiftung Denkmal anlässlich 75 Jahre Kriegsende und 15 Jahre Denkmal
Am 7. Mai 2020, 20 Uhr, Online-Gedenken (Live auf YouTube): Moderation: Claudia Roth, Gesprächspartner: Uwe Neumärker, Jörg Skriebeleit und Schauspieler lesen Biographien u.a. Carol Schuler
Am 8. Mai 2020 Samuel Koch liest Namen im Holocaust-Denkmal (Live)
Mai 2020, 19 Uhr, Live-Zeitzeugengespräch mit Regina Steinitz und Ruth Malin (Live auf YouTube), Moderation: Maria Ossowski, eine Veranstaltung von AMCHA Deutschland in Kooperation mit der Stiftung Denkmal. Bereits im Oktober 2014 hatte die Stiftung gemeinsam mit Regina Steinitz ihre Lebenserinnerungen in Berlin vorgestellt.
Am 10. Mai 2020 – genau 15 Jahre nach der Eröffnung des Denkmals – wird der Animationsfilm »Ich glaube an die Liebe …« zur Lebensgeschichte von Sabina van der Linden-Wolanski auf der Webseite der Stiftung und ihren Social-Media-Kanälen zu sehen sein. Sabina sprach am 10. Mai 2005 die Worte: »Ich bin die Stimme der sechs Millionen …«
Am 11. Mai 2020 startet eine Podcast-Reihe u. a. mit Mirna Funk – Uwe Neumärker, Thilo Mischke – Lea Rosh, Sören Frey – Katharina Nesytowa, Alice Hasters – Friedmann Karig, Alina Stiegler – Leonard Kaminski. Die Reihe ist gemeinsam mit dem Förderkreis entstanden. Die Gesprächspartner begegneten sich zum ersten Mal und gehen der Frage nach: Wie heute erinnern?
75jahrekriegsende.berlin, Partner der Virtuellen Ausstellung sowie Augmented-Reality-App der Berliner Kulturprojekte anlässlich 75 Jahre Kriegsende (Start: 2. Mai). Alle vier von der Stiftung betreuten Gedenkorte sind eingebunden und werden anhand von Biographien erfahrbar. Die Webseite www.75-Jahre-Kriegsende.de ist ebenfalls eingebunden.
Fragen an den Direktor Uwe Neumärker
Am 10. Mai 2005 wurde das Denkmal für die ermordeten Juden Europas feierlich eröffnet. Was hat dieses Denkmal seitdem bewirkt, und was hat die Stiftung erreicht?
»Das sogenannte Holocaust-Mahnmal ist zu einer Selbstverständlichkeit im Berliner Stadtbild geworden, es zählt laut einer Umfrage, nach dem Reichstagsgebäude und Brandenburger Tor, zu den beliebtesten touristischen Sehenswürdigkeiten – nicht nur in der deutschen Hauptstadt, sondern in der gesamten Bundesrepublik. Nach den erbitterten Diskussionen um seine Errichtung, Widmung und künstlerische Gestaltung, die Baukosten und dergleichen, die heute praktisch vergessen sind, ist das keine Selbstverständlichkeit. Diese Debatten waren jedoch für die Selbstverständigung der Deutschen über den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nach der Wiedervereinigung und auch angesichts der Ängste unserer Nachbarn vor einem erneuten »Großdeutschland« von immenser Bedeutung. Das Denkmal ist und bleibt ein Bekenntnis zu unserer historischen Verantwortung für die deutschen Verbrechen und die ermordeten Juden aus ganz Europa. Es ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses, der allerdings in jüngster Zeit von einigen – wohl gemerkt einer, leider sehr ernst zu nehmenden Minderheit – in Frage gestellt wird. Aber dass es das Holocaust-Mahnmal ist, das als Symbol der Aufarbeitung des Nationalsozialismus zweideutig eindeutig als »Denkmal der Schande« und Anlass für die Forderung nach »einer erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« beschimpft wird, unterstreicht seine symbolische Bedeutung für dieses Land nur umso mehr. Wir dürfen es dabei aber nicht belassen: Das Denkmal setzt auch ein Zeichen für Gegenwart und Zukunft, Antisemitismus, Rassismus und jedwede Form von Ausgrenzung aktiv zu bekämpfen und unsere Demokratie aktiv zu gestalten.
Wir standen nach der feierlichen Übergabe vor der Herausforderung, den Betrieb des Orts der Information zu organisieren, pädagogische Programme zu entwickeln und die Stiftung als gleichberechtigten Partner in der Berliner sowie der deutschen, europäischen und internationalen Gedenklandschaft zu verankern. Knapp eine halbe Million Besucher in der Dauerausstellung pro Jahr, etwa 2.000 gebuchte Führungen sowie die mittlerweile gezollte Anerkennung für unsere Arbeit und der Besuch hochrangiger Staatsgäste zeigen, dass wir mit unserem Ansatz nicht ganz falsch lagen und liegen.«
Wie hat sich die Erinnerungskultur allgemein in den vergangenen 15 Jahren entwickelt und wie haben sich die Aufgaben und die Arbeit der Stiftung Denkmal entsprechend verändert?
»Der Beschluss des Deutschen Bundestages zur Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas im Sommer 1999 ging mit der Selbstverpflichtung einher, »die Erinnerung an alle Opfer des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigneter Weise sicherzustellen«. Das ist laut Gesetz Aufgabe der Stiftung. Die Entscheidung, das nationale Mahnmal nicht allen Opfern, sondern ausschließlich den europäischen Juden zu widmen, führte – wie zu erwarten – zur Forderung andere Gruppen nach einem eigenen Erinnerungsort. So errichtete die Bundesrepublik Deutschland ein Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen (2008), ein Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma (2012) sowie den Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde (2014). Sie alle werden von der Stiftung betreut, was 2005 nicht absehbar war. Darüber hinaus hat sie eine Wanderausstellung zu den Opfern der NS-Militärjustiz erarbeitet, die seit Sommer 2007 in über 50 Orten in Deutschland, Österreich, Belgien und Luxemburg erfolgreich gezeigt wurde. Sie hat dazu beigetragen, dass Österreich Wehrmachtsdeserteure und Deutschland »Kriegsverräter« im Jahr 2009 rehabilitiert haben. Das zeigt zum einen, wie lebendig unsere Erinnerungskultur ist und wie differenziert sie sich entwickelt hat – die nationalen Denkmäler sind ja auch Ausdruck einer sehr vielfältigen deutschen Erinnerungslandschaft. Zum anderen verdeutlicht es, wie sich die Arbeit der Stiftung verändert hat. Denn unter Betreuung verstehen wir nicht allein den technischen Unterhalt. Vielmehr bemühen wir uns durch Bildungsangebote, Veranstaltungen, Publikationen, Gedenkzeremonien oder Sonderausstellungen das Anliegen der Denkmäler umzusetzen und unserem Auftrag, jener Opfer zu gedenken, die keinen eigenen Erinnerungsort haben, gerecht zu werden.«
Welche Erinnerungsstätten / Denkmäler im Verantwortungsbereich der Stiftung wird es in Zukunft noch geben?
»Nicht wir planen Erinnerungsstätten. Das ist nicht unsere Aufgabe. Wir betreuen nationale Gedenkorte für NS-Opfer, wenn der Deutsche Bundestag sie beschlossen hat. Derzeit gibt es eine breite Debatte um ein Polen-Denkmal. Wobei unklar ist, wem genau dieser Erinnerungsort gewidmet sein soll? Über die Hälfte der Opfer waren beispielsweise Polen jüdischer Abstammung. Für sie gibt es bereits das Holocaust-Mahnmal. Es steht außer Frage, dass unser Nachbarland in besonderem Maße unter der deutschen Besatzungsherrschaft gelitten hat. Das gilt allerdings auch für Belarussen oder Ukrainer. Letztere haben bereits ein eigenes Denkmal gefordert. Auch Griechen oder Niederländer haben viele zivile Opfer zu verzeichnen gehabt. Zudem können Denkmäler die Leerstellen historischen Wissens nicht beheben und die notwendige Aufklärung über die deutschen Verbrechen und ihre Opfer nicht leisten. Der Beirat der Stiftung hat daher die Gründung eines Dokumentationszentrums über die deutsche Besatzungsherrschaft in Europa zwischen 1939 und 1945 unter dem Dach der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas angeregt – als Ort der historischen Aufklärung und Bildung, der intergenerationellen Begegnung von Menschen aus den betroffenen europäischen Staaten. Dies sollte ein Ort der Toleranz und Friedensarbeit wie auch des Gedenkens an die zivilen Opfer in ganz Europa während des Zweiten Weltkrieges sein. Die vergleichende Perspektive würde die Gemeinsamkeiten deutscher Okkupation zwischen Pyrenäen und Kaukasus herausstellen, vor allem aber auf die rassistisch motivierten Unterschiede bei der Behandlung der Zivilbevölkerung, der Kriegsgefangenen und der Zwangsarbeiter auf dem Gebiet des Deutschen Reiches aufmerksam machen. Dadurch wird der Charakter des Vernichtungskrieges im Osten und auch im Südosten deutlich.
Am 13. Februar 2020 beschloss der Deutsche Bundestag, »die von den Nationalsozialisten als ›Asoziale‹ oder ›Berufsverbrecher‹ Verfolgten anzuerkennen, und ihre Geschichte aufzuarbeiten«. Zugleich forderte er die Bundesregierung auf, »eine modulare Ausstellung in Auftrag zu geben, die historische Information und gedenkendes Erinnern zum Schicksal der als ›Asoziale‹ oder ›Berufsverbrecher‹ Verfolgten verbindet«. Das Konzept soll durch die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Zusammenarbeit mit den KZ-Gedenkstätten erarbeitet werden. Es muss also nicht immer Stein oder Bronze sein. Wobei der Wunsch der Zeugen Jehovas, einer klar abgrenzbaren Opfergruppe, nach einem eigenen Denkmal im Berliner Tiergarten ein Kunstwerk aus Bronze – ergänzt durch eine Informationstafel – sein soll. Wenn sich das Parlament dieser Idee annimmt, obläge seine Betreuung bei uns.«
Weitere 15 Jahre Holocaust-Denkmal und Stiftung Denkmal, welche Antworten würden Sie dann gerne geben können?
»Wenn sich die Welt weiter so rasant entwickelt wie in den letzten 15 Jahren, werden wir hoffentlich Digitalisierung und Einwanderungsgesellschaft begriffen und umgesetzt haben. Der Umgang und die Auseinandersetzung der jetzt jungen und der künftigen Generationen mit den damaligen Ereignissen befinden sich trotz des zeitlichen Abstandes in einem stetigen Prozess der Veränderung und Weiterentwicklung. Wir sind auf neue Zugänge gespannt. Einen fortwährenden und immer neuen Anknüpfungspunkt bietet etwa der Aspekt der Selbstbehauptung im Dritten Reich. Insbesondere für diejenigen, die mitgestalten möchten und denen demokratische und politische Teilhabe ein Anliegen ist, können und sollen die Denkmäler im Bestand der Stiftung mit ihren Angeboten auch in 15 Jahren noch Orte des Lernens, der Information und Begegnung sein. Erfolge für die Stiftung wären, weiterhin möglichst viele Menschen mit unseren Inhalten zu erreichen – mit pädagogischen Angeboten oder zum Beispiel in Form von Publikationen und mit unseren Veranstaltungen, auf denen wir uns mehr junge Gäste wünschen. Ich hoffe, dass bis 2035 das erwähnte Dokumentationszentrum Gestalt angenommen hat – auch zur Stärkung des europäischen Gedankens. Ich stehe dann ohnehin kurz vor der Rente. Aber letztlich ist derzeit unklar, wie die Corona-Pandemie die Menschen – und damit auch das Publikum von Gedenkstätten und Museen – verändern wird.«
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AKTUELL ZUR PANDEMIE
Die Ausstellung unter dem Holocaust-Denkmal ist bis auf weiteres geschlossen. Führungen finden nicht statt. Wir bedauern dies sehr. Wie bemühen uns, gemessen an den aktuellen Entwicklungen und Vorgaben, unsere Ausstellung wieder für Besucher zu öffnen. Das Stelenfeld, das Homosexuellen-Denkmal, das Sinti-und-Roma-Denkmal und der Gedenkort für »Euthanasie«-Opfer können besucht werden. Tagsüber können Gäste der Erinnerungsorte einen Besucherbetreuer bzw. eine Besucherbetreuerin bei Fragen zu den Orten direkt ansprechen. Die Geschäftsstelle der Stiftung Denkmal ist weiterhin für Fragen zu allen von ihr betreuten Denkmälern erreichbar.
Besucherzahlen: 2019 kamen 480.000 Gäste in den Ort der Information unter dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas – mehr als im bisherigen Rekordjahr 2015 (475.000).