Kaum ein Medium hat so großen Einfluss auf die kollektive Erinnerung, wie der Film. Die US-Serie Holocaust oder Schindlers Liste haben unser Bild vom Holocaust mitgeprägt. Und das Thema ist bei weitem noch nicht auserzählt, immer wieder kommen neue Filme, die unsere Wahrnehmung um eine neue Perspektive erweitern können.
Fast achtzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz kommt mit »The Zone of Interest« ein solcher Film in die Kinos: Wie unter einer Lupe wird darin das banale Alltagsleben der Familie des Lagerkommandanten und Karrieristen Rudolf Höss in Szene gesetzt, vor allem aus der Sicht seiner Frau Hedwig. Man sieht das Morden nebenan nicht, doch das Vernichtungslager ist allgegenwärtig, hinter dem Zaun lauert das Grauen. Man sieht den Rauch, man hört die Schüsse und die Schreie, aber Familie Höss führt ihr Leben in den gewohnten Bahnen weiter: Hedwig weist ihre Kinder zurecht oder fachsimpelt in ihrem Garten über Gemüseanbau. Die Realität nebenan wird – zumindest scheinbar – komplett ausgeblendet. Die Atmosphäre ist klaustrophobisch und beklemmend.
Der Film zeigt die innere Perspektive der Täter: Männer mit und ohne Uniform diskutieren die technischen Abläufe des Mordens, und die Frauen sorgen sich vor allem um ihren sozialen Status. Als eine Versetzung zurück ins Reich im Raum steht, will Hedwig mit den Kindern unbedingt in Auschwitz bleiben: dieses schöne Leben hier im Osten aufzugeben, kommt für sie nicht infrage. Und so wird gezeigt, was neben Hass, Rassenideologie und physischer Brutalität den Holocaust erst möglich gemacht hat: schnöder Opportunismus und eine fast totale Skrupellosigkeit – nicht nur seitens der eigentlichen Täter.
Der Film kommt zu einer interessanten Zeit: einerseits ist die Gesellschaft angesichts der fortlaufenden Krisen und dem Erstarken von rechtsextremen Ideologien stark verunsichert. Anderseits wähnen sich fast 80 Jahre nach Kriegsende und der jahrzehntelangen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit viele auf der moralisch vermeintlich sicheren Seite: nie mehr würden die Menschen in unserer Gesellschaft in die Verlegenheit kommen, solchen Gräueltaten Vorschub zu leisten. Doch man merkt schnell, dass Menschen wie Rudolf und Hedwig Höss uns gar nicht so fremd sind: die bei vielen Menschen stark ausgeprägte Neigung, selbst unsagbare Grausamkeiten auszublenden, wenn es nur den eigenen Interessen dient, ist auch heute noch sehr aktuell. Wenn wir aus der Geschichte etwas lernen können, dann dies: gegen den völligen moralischen Absturz ist keine Gesellschaft, keine Generation immun.
Ein Text von Adam Kerpel-Fronius, wiss. Mitarbeiter der Stiftung, verantwortlich für den Arbeitsbereich Erinnungskultur und internationale Beziehungen sowie Leiter des Gedenkstättenportals. »The Zone of Interest« wird ab 29. Februar 2024 im Kino zu sehen sein.