Erst im März 1948, als 12-Jähriger, begegnete Gerd Braun zum ersten Mal seinem Vater. Der Junge war während des Krieges von der christlichen Mutter im Zuge der Kinderlandverschickung auf einem Bauernhof im ostpreußischen Schwentainen untergebracht worden.
1937, nur ein Jahr nach Gerd Brauns Geburt, wurde sein jüdischer Vater als einer der ersten Häftlinge in das Konzentrationslager Buchenwald eingewiesen und blieb bis zum Ende des Krieges in KZ-Haft. Die Mutter, die sich von ihrem Mann scheiden ließ und die vorgesehene Aufnahme der Kinder in die Jüdische Gemeinde Berlin verhinderte, schickte ihn 1944 zusammen mit seiner jüngeren Schwester nach Ostpreußen. Durch das Vorrücken der Roten Armee mussten die Kinder in der Folgezeit bei unterschiedlichen Pflegefamilien in Schlesien und Böhmen unterkommen, bis Gerd Braun 1945 mit seinen Pflegeeltern in Hessen ankam. Dort ging er wieder zur Schule und wurde schließlich von seinen leiblichen Eltern gefunden. Er begann in den 1950er Jahren eine Lehre als Bäcker und zog nach Berlin. Nach der Heirat und der Geburt zweier Kinder machte er sich mit einer eigenen Bäckerei in Berlin-Neukölln selbstständig. Die Familiengeschichte war noch über den Tod des Vaters im Jahr 1982 hinaus stark von dessen Haftzeit geprägt. Gerd Braun, der sich selbst nie als Verfolgter begriffen hatte, bedauerte das jahrzehntelange Verschweigen, das ihm den Zugang zu seiner Vergangenheit verwehrte, zutiefst. Zum Zeitpunkt des Interviews, wenige Monate vor seinem Tod, war er 75 Jahre alt.
Gerd Braun (01137/0034), 15. Juni 2011 (Berlin). Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Durchführung: Barbara Kurowska, Daniel Baranowski und Daniel Hübner. Bearbeitung: Daniel Baranowski.