von Dr. Ulrich Baumann, stellvertretender Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas
Ich hob auf die zentrale Planung des Terrors ab, der am Abend des 9. November 1938 von der NSDAP und ihren Parteigliederungen (vor allem SA, SS und Hitlerjugend) aus München ausging, wo sich die Parteiführung zum Gedenken an den 15. Jahrestag des »Hitlerputsches« versammelt hatte. Mittels einer Telefonkette wurde der Befehl zum Angriff in Windeseile in das gesamte Deutsche Reich weitergegeben, von Flensburg bis Innsbruck, von Aachen bis Königsberg.
Lange wurden die Ereignisse als »Kristallnacht« oder »Reichskristallnacht« bezeichnet. Der Begriff »Reichskristallnacht«, angeblich eine Schöpfung des Berliner Volksmundes, lässt sich erstmals im Juni 1939 in einer Rede auf einem NSDAP-Gautag nachweisen. In der Nachkriegszeit setzt sich dieser Begriff in der westdeutschen Erinnerungskultur weitgehend durch, auch in der DDR ist von »Kristallnacht« die Rede. Doch in den 1970er Jahren verstärkt sich das Unbehagen an den bisherigen Sprachgewohnheiten. Viele empfinden sie als verharmlosend. Bis 1988 wird der Begriff »Reichspogromnacht« üblich, in der DDR in der Wendung »faschistische Pogromnacht«. Mittlerweile ist auch von »Novemberpogromen« die Rede.
Ich wies in meinem Vortrag auch auf die problematische Seite dieser Begriffe hin. Pogrom, ein russisches Wort, ist nach der Definition der Gewaltforschung (Werner Bergmann) eine »einseitige, nicht staatliche Form kollektiver sozialer Kontrolle«. Sie ließ sich für zahlreiche Fälle nachweisen, bei denen sich eine Bevölkerungsgruppe durch eine andere Gruppe bedroht fühlte und dabei von Seiten des Staates keine Abhilfe erwartete. Im November 1938 war genau das Gegenteil der Fall. Der Staat bzw. die NSDAP waren die Auslöser der Gewalt.
Warum ist der Pogrombegriff dennoch so attraktiv und wie entstand er? Hier konnte ich Einsichten vorstellen, die durch die Vorbereitung der jüngst in Berlin eröffneten Schau: »Kristallnacht« Antijüdischer Terror 1938. Ereignisse und Erinnerung gewonnen werden konnten, sowie durch Forschungen, die der Londoner Historiker François Guesnet gemeinsam mit mir zur Begriffsgeschichte vorantreibt. Der Schlüssel zum Verständnis liegt in den kulturellen Umbrüchen der 1970er Jahren in der Bundesrepublik und dem damals gesteigerten Bedürfnis, sich mit den (noch von der 68-er Bewegung ignorierten) Opfern zu solidarisieren. Es ging darum, einen Ausdruck zu finden, der die Unmittelbarkeit der Gewalt erfahrbar machte. Nicht zufällig, so konnte ich herausfinden, wurde das Wort »Reichspogromnacht« am 9. November 1977 bei einer illegalen Hängung einer Gedenktafel zur Erinnerung an Häftlinge eines ehemaligen Konzentrationslager (Niederhagen bei Paderborn) lanciert, an der mehrere SPD-Bundestagsabgeordneten teilnahmen, darunter Klaus Thüsing, Karl-Heinz Hansen und Franz Müntefering. Die Entstehung des Begriffs ist Teil der entstehenden kritischen Geschichtskultur der Bundesrepublik, aber er hat in seiner Unschärfe genauso wie »Kristallnacht« überlebt. Ich plädierte für den Begriff »antijüdischer Staats- und Parteiterror« oder kurz: »Novemberterror«. Ob sich diese Begriffe durchsetzen, ist offen. Das sah auch das Schweriner Publikum so.